„Das größte Versäumnis der Menschheit ist unser Unverständnis für die Exponentialfunktion“
Artikel vom 29.09.2014
“The greatest shortcoming of the human race is our inability to understand the exponential function.” Albert A. Bartlett
Der Ausspruch des amerikanischen Physikers und Professors Albert A. Bartlett bezog sich auf das Bevölkerungswachstum. Das menschliche Urteilsvermögen hat seine Schwierigkeiten damit, sich das Tempo, die quantitativen Effekte und die Konsequenzen vorzustellen. Ein anderes Beispiel für dieses mangelhafte Verständnis ist der Zinseszinseffekt.
Das primitive Beispiel der Glühlampen verdeutlicht den Effekt: fünf Glühlampen, die entweder „an“ oder „aus“ sein können, ergeben 25 = 32 mögliche Zustände, 10 Glühlampen ergeben bereits 1024 Zustände (210) und 20 Glühlampen über eine Million Zustände (220).
Auch beim Verständnis von Komplexität versagt unser Vorstellungsvermögen. Wenn wir Sortimente erweitern, Varianten ergänzen, in neue Länder expandieren, dann können sich die wenigsten den zusätzlichen Aufwand in Form von Gemeinkosten vorstellen. Man ist der Meinung, das bisschen Mehr schaffen wir mit links, das dauert doch nur 5 Minuten. Oder: es bringt doch Umsatz, hören wir. Mit jeder zusätzlicher Aktivität steigern wir allerdings die Komplexität und damit die Gemeinkosten und riskieren Zuverlässigkeit und Funktionstüchtigkeit unserer Systeme:
- Mit jedem zusätzlichen Artikel, der für wichtig gehalten wird (Penny stellt zusätzliche Kühlschränke auf für gekühlte Convenience Artikel).
- Mit jedem zusätzlichen Land, in das ein Unternehmen expandieren will (was wollte Metro Cash & Carry in Vietnam?).
- Mit jeder weiteren Buchungsklasse und Zusatzleistung mal inklusive, mal exklusive, damit auch kein Kundenwunsch unerfüllt bleibt (siehe Lufthansa und die sogenannte Billigfluglinie Germanwings mit unzähligen Konditionen).
- Mit jedem zusätzlichen Land, das in die Europäische Union aufgenommen wird.
Unsere Wahrnehmung macht uns einen Strich durch die Rechnung: den zusätzlichen Umsatz können wir messen, aber den internen Aufwand ignorieren wir: Jeder zusätzlicher Artikel muss verhandelt, beworben, gelagert und disponiert werden und braucht einen Vertrag mit einem Lieferanten, jede Lieferung muss kontrolliert und die Rechnung bezahlt werden.
Der Hirnforscher Wolf Singer bestätigt: „Wir haben keine Intuition für Komplexität“. Durch die Begrenztheit unseres Gehirns und unserer Sinnessysteme können wir nur lineare Phänomene verstehen und nur Teilinformationen wahrnehmen. Indem wir von falschen Annahmen ausgehen und mit falschen Systemen arbeiten, trifft uns dann das große Erstaunen, wenn sich die Dinge plötzlich ganz anders entwickeln, als wir prognostiziert haben.
Manager heute brauchen daher ein gutes Verständnis von Komplexität, um die richtigen Strukturen und Architekturen einzuführen sowie die Bereitschaft zum Verzicht und zum Verständnis des „Just enough“: was ist gerade ausreichend, was ist wesentlich im Sinne unseres Geschäftsmodells?