Günter Grass und die Abgeordneten ohne Verantwortung
Artikel vom 26.08.2005Die zunehmende Komplexität verwischt das Bild einer klaren Zuschreibung von Verantwortung. Verantwortung ist immer weniger personalisierbar. Sie wird begrifflich unscharf. Führungskräfte in Politik und Wirtschaft müssten für sich und ihre Bereiche klare und eindeutige Verantwortlichkeiten organisieren und diese durch kluge Kontrollhandlungen begleiten. Immer geht es darum, Verantwortung konkret festzumachen an Personen und nicht an anonymen Gruppen. Hier gibt es überall Verständnisschwierigkeiten, sogar bei den klügsten Intellektuellen.
Günter Grass schreibt im Hauptartikel der „Zeit„ im Juni 2005 über „Freiheit nach Börsenmaß“. Er fordert darin, dass wir als selbstbewusste Demokraten der Macht des Kapitals widerstehen sollten.„ Das ist so wunderbar naiv, weil „wir„ als anonyme Masse ja für nichts verantwortlich gemacht werden können. Und von wem auch? Solche Forderungen können großzügig, unverbindlich und ohne Verantwortung für Unsinn erhoben werden. Im übrigen bliebe noch zu prüfen, wie es um die – nach Grass offensichtlich nur negative – Macht des Kapitels steht.
Andererseits entschuldigt Grass die „frei gewählten Abgeordneten“, die nicht mehr frei seien in ihren Entschlüssen, weil sie von den Lobbyisten eingeengt würden. Darf der Bürger denn seinen Abgeordneten nicht verantwortlich machen? Warum kann er gegenüber den Forderungen eines Lobbyisten nicht „nein„ sagen. Aufgabe des Abgeordneten ist die Gestaltung der Rahmenregelungen im Staat, er ist der Gesetzgeber. Er ist frei und hat gemäß Wählerauftrag und Verfassung seine demokratische Legitimation zu nutzen. Er hat nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden. Grass dagegen macht anonyme „mächtige Banken und Konzerne“ verantwortlich. Er beklagt, dass diese Unternehmen keiner demokratischen Kontrolle unterliegen. Die Kontrolle darüber übt nicht das Volk aus, und das ist gut so. Diese Kontrolle üben die Eigentümer sowie Gesetzgeber und Exekutive mehr oder weniger vollkommen aus. Für mich ist der von mir gewählte Abgeordnete für seine Entscheidungen und Handlungen voll verantwortlich. Ihn bedaure ich nicht, denn er hat in vollem Bewusstsein um meine Stimme geworben. Dass es gegen schwache und unfähige Abgeordnete nur die Sanktion der nächsten Wahl – und oft nicht einmal diese – gibt, ist leider nicht zu ändern.